Teil der Globensammlung der »Herzogin Anna-Amalia Bibliothek«

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  • 16. September, 2022 — Mut zum Chaos - Die Bibliothek von Ottilie von Goethe in Weimar

    Genial, eigenwillig, umstritten, faszinierend: Ottilie von Pogwisch, nach der Eheschließung 1817 mit dem Sohn des Dichterfürsten Ottilie von Goethe (1796-1872), war eine unverwechselbare Persönlichkeit. Sie prägte das gesellschaftliche Leben in Weimar, Wien und Dresden mit. Sie agierte in der Literaturwelt des 19. Jahrhunderts als Herausgeberin des mehrsprachigen Journals »Chaos«, als Förderin neuer literarischen Bewegungen und als Netzwerkerin mit dem englischsprachigen Raum. 150 Jahre nach ihrem Tod widmet das Goethe- und Schiller-Archiv ihr zum ersten Mal eine Ausstellung. https://www.klassik-stiftung.de/ihr-besuch/ausstellung/ottilie-von-goethe/

    Die Forschung zu Ottilies schriftlichem Nachlass brachte Dokumente ans Licht, die eine Rekonstruktion ihrer Privatbibliothek ermöglichten und ihr breites Interesse an zeitgenössischer Literatur, Übersetzungen, Fragen von Freiheits- und Frauenrechten zeigen. Durch eine gezielte Recherche in den Bibliotheken von Jena und Weimar wurde ein Teil ihrer Privatbibliothek konkret wiederentdeckt. In den Beständen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek sind bis heute ca. 90 Bücher Ottilie von Goethes wieder »aufgetaucht«. Sie tragen noch die Widmungen oder Ottilie selbst hat den Namen des/der Schenker:in dort vermerkt. Auf verschiedenen Wegen, durch etliche Institutionen und Persönlichkeiten sind diese Bücher jetzt in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek vereint. Hier ein Überblick über die wechselvolle Geschichte dieser Privatbibliothek und über einige der Bücher-Biographien.

    Ottilies Bücher in der Sammlung ihres Sohnes Wolfgang Maximilian von Goethe

    Nach bewegten Jahren zwischen Österreich, Italien und Deutschland nahm Ottilie von Goethe 1870 wieder ihren Wohnsitz in der Mansarde am Frauenplan, wo sie zwischen 1817 (dem ersten Ehejahr) und 1842 (ihrem Umzug nach Wien) fast dauerhaft gelebt hatte. Dort starb sie am 26. Oktober 1872 kurz vor ihrem 76. Geburtstag. Ihre Privatbibliothek, die zwischen Weimar und ihrer Wiener Wohnung zerstreut war, ging hauptsächlich in die Sammlungen ihres zweiten Sohnes Wolfgang Maximilian über. Der bibliophile Jurist überließ seine Sammlungen 1880 testamentarisch der Universität Jena. Leider sind Teile dieses sehr interessanten Nachlasses heute schwer rekonstruierbar. Zusammengehalten wurden aber seine Autographensammlung, sowie die Handschriften- und Büchersammlung (ca. 5000 Bände), die heute die Signatur G.B. (Goethe-Bibliothek) trägt. Trotz erheblicher Verluste im 2. Weltkrieg ist sie noch immer von großem Interesse, auch weil sie zahlreiche Bücher mit Ottilies eigenhändigen Vermerken enthält.

    Auch Weimar besitzt einige Werke aus der Bibliothek Wolfgang Maximilians, die davor Ottilie gehörten. Nach Wolfgangs Tod 1883 wurde sein Nachlass am Frauenplan aufbewahrt und erst nach dem Ableben seines Bruders Walther 1885 nach Jena gebracht. Wolfgang hatte aber testamentarisch festlegt, dass aus seiner Bibliothek die »meinen Großvater betreffende Literatur« bei seinem Bruder Walther bleiben sollte. Deshalb kamen einige Werke aus dem schon bearbeiteten Jenaer Bestand zurück nach Weimar und wurden von der 1885 gegründeten Goethe-Gesellschaft übernommen – z.B. die Faust-Übersetzung ins Englische durch Lord Francis Leveson Gowers (London 1825, G 248 a-b Abb. 1). Dieses Werk trägt den eigenhändigen Besitzvermerk Ottilies.

    1913 kamen erneut Bücher aus Wolfgang Maximilians Bibliothek nach Weimar. Sie gingen diesmal direkt in die Bibliothek am Frauenplan. Mit dem Ziel, eine komplette Goethe-Bibliothek im Goethe Nationalmuseum zu sammeln, sonderte man aus Jena die Werke aus, die der Dichter zum Geschenk erhalten und dann seiner Schwiegertochter weitergeschenkt hatte. Hans Ruppert katalogisierte 1958 auch diese Bände, die seitdem die für Johann Wolfgang von Goethes Bibliothek typische »Ruppert-Signatur« tragen. Es sind Bücher englischer Literatur, für die Ottilie brannte, wie die drei Bände von William Cowper (London 1817, 1818, 1822, heute Ruppert 1502; Ruppert 1503, Ruppert 1504), »Detractions Displayed« von Amelia Opie, (London 1828, Ruppert 1516) und »Cain the Wanderer« von John Edmund Reade (London 1829, Ruppert 1517 (Ex. I)).

    Oft schenkte Goethe seiner Schwiegertochter auch englische Übersetzungen von deutschen Autoren, wie z.B. Georg Moirs englische Version von Schillers Dramen (Edinburgh 1827, Ruppert 1119 (1-2), John Ansters »Poems« (Edinburgh, 1819, Ruppert 1483) und George Downes »Dublin University Prize Poems« (Dublin 1824, Ruppert 1506).

    Ein wichtiger Teil der Bibliothek von Wolfgang Maximilian wurde unerklärlicherweise 1905 in Kiel von der Firma Lipsius & Tischler auktioniert. In dem detaillierten Katalog der Auktion (»Die Bibliothek Maximilian Wolfgang von Goethe’s…«) sind auch viele weitere Geschenke Goethes an seine geliebte Schwiegertochter sowie andere Bücher Ottilies zu finden. Zum Glück erwarb der amerikanische Germanist Leonard Leopold Mackall Werke aus der Auktion und schenkte zwei, die ursprünglich Ottilie gehörten, 1911 dem Goethe-Nationalmuseum. Es sind die Zeitschrift »Forget-me-not« für das Jahr 1832, (heute V 4138), ein Geschenk von Frederic Soret für Ottilie, und Joseph Stanilaus Zaupers »Grundzüge zu einer deutschen teoretisch-praktischen Poetik aus Göthe’s Werke entwickelt« (Wien 1821, V 4130 Abb. 2). Das war 1840 ein Geschenk des Diplomaten Heinrich Friedrich Philipp von Bockelberg, wie Ottilie in ihrem Tagebuch notierte.

    Die Rolle der Goethe-Gesellschaft und anderer Institutionen

    Leo Henckel von Donnersmarck und Felix Vulpius, Erben des privaten Nachlasses von Walther von Goethe, erhielten 1885 mehrere Bücher aus dem Haus am Frauenplan, die nicht zur privaten Bibliothek des Dichters gehörten. Einige davon schenkten sie aber schon 1886 der ein Jahr davor gegründeten Goethe-Gesellschaft. Diese unterstützte mit ihrer Bibliothek die Editionsarbeit des Goethe- und Schiller-Archivs. Diese Bibliothek der Gesellschaft ist heute ein wichtiger Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

    Unter der G-Signatur, die die Goethe-Gesellschaft für Übersetzungen von Goethes Werk nutzte, finden wir z.B. von Abraham Hayward »Faust: a Dramatic Poem« (London 1834, G 250) und Thomas Carlyle »Wilhelm Meister’s Apprenticeship and Travels« (London 1839, G 290a-c). Auch Übersetzungen der Werke Goethes ins Italienische waren für Ottilie von Goethe sehr wichtig, die sie zum Teil während ihrer insgesamt vier Reisen nach Italien sammelte. So kam die Goethe-Gesellschaft (und damit heute die HAAB) in Besitz der ersten italienischen Übersetzung des »Tasso« von Guido Sorelli (Firenze 1820, G 475), die Prosaübersetzung des »Faust I« vom Literaturkritiker Giovita Scalvini (Milano 1835, G 489) und die »Ifigenia in Tauride« (Udine 1853, G 474), übersetzt vom Historiker Giusto Grion.

    Im Bereich der Sekundärliteratur zu Goethe (Signatur: Numerus-Currens) bekam die Goethe-Gesellschafft ebenfalls einige Werke aus Ottilies Nachlass. Besonders erwähnenswert scheinen mir hier Herman Grimm »Goethe in Italien: Vorlesung gehalten zum Besten des Goethedenkmals in Berlin« (Berlin 1861, Signatur: 4207) mit eigenhändiger Widmung des Verfassers und George Henry Lewes »The Life and the Works of Goethe« (London 1855, Signatur: 7135), in dem Ottilies Lesespuren mit Bleistift zu finden sind.

    Auch das Goethe- und Schiller-Archiv hatte seit seiner Gründung einen eigenen Bücherbestand aufgebaut und ständig erweitert. Dort befanden sich auch einige Bücher, die mit dem handschriftlichen Nachlass der Goethe-Familie oder später durch weitere Schenkungen von dessen Erben dort ankamen. Das Goethe-und Schiller-Archiv und die Goethe-Gesellschaft haben die Bibliothek als eine Einheit betrachtet und es ist in manchen Fällen nicht zu klären, auf welchen Wegen die Bücher ab 1953 in die damalige Thüringische Landesbibliothek gelangt sind, z. B. dann, wenn keine Stempelspur im Buch zu sehen ist.

    Einige problematische Fälle finden sich heute hauptsächlich unter der Signatur N (Neuerwerbungen) wie z. B. die drei Bände von Sarah Austin »Characteristics of Goethe« (London 1833, mit Widmung an Ottilie, N 3632a-c) und »Nachricht von den neusten Herculanischen Entdeckungen« von Johann Joachim Winckelmann (Zürich 1764, N 21893), ein Geschenk von Romeo Seligmann, ein enger Freund Ottilies aus den Wiener Jahren. Mehrere Bücher Ottilies befinden sich auch unter der Signatur V (Varia). Diese sind Werke aus dem Goethe-und Schiller-Archiv oder aus der Bibliothek des Goethe Nationalmuseums, z. B. »Cain: A Mystery« von Lord Byron (London 1822, V 4139), ein Geschenk von Charles Sterling 1823, und die »Jahrbücher zur Schiller-Stiftung«, die ihr Carl Gustav Carus 1857 in Dresden schenkte (V 4194 Abb. 3).

    Die Kunstbücher Ottilies in Weimar und die Erwerbungen durch die Familie Vulpius

    Einige Bücher Ottilies scheinen immer in der Bibliothek des Frauenplans geblieben zu sein, z. B. der vierte Band von Friedrich Rochlitz »Für Freunde der Tonkunst« (Leipzig 1832, Ruppert 2594 (4)), ein Geschenk des Autors an Ottilie, das nicht von den anderen Rochlitz-Büchern in Goethes Sammlung getrennt wurde. Am Frauenplan blieben auch zwei wunderschöne Bücher mit Kupferstichen, die von Ottilies wachsendem Interesse für die Kunst der Antike zeugen: Jacques Guillaume Legrand »Galerie antique …« (Paris, 1808, Ruppert 2084), das sie in Wien kaufte, und »Ornamenti Di Fabriche …« des berühmten Kupferstechers Bartolomeo Rossi (1600, Ruppert 2212 Abb. 4), 1855 ein Geschenk ihres gelehrten Freundes Romeo Seligmann, wie ein Dokument im Goethe- und Schiller-Archiv bezeugt.

    Einige Kunstbücher Ottilies scheinen nach ihrem Tod direkt in die Bestände der Kunstsammlungen zu Weimar übergegangen zu sein. Es sind oft Geschenke ihres Sohnes Wolfgang, mit dem sie die Liebe zur Kunst und zur Antike teilte. Im Jahr 1857 erhielt sie zum Geburtstag vom ihm die gebundene Kupferstich-Sammlung »Costumi diversi…«, entworfen und gestochen von Bartolomeo Pinelli (Rom 1822, Ku 2° III T – 70). Zwei Jahre später bekam sie »Peintures à fresque du Camposanto de Pise…« (Florence 1833, Ku D 241), ein Werk, das die wichtigen Fresken aus dem 14. Jhd. zum ersten Mal in großen Tafeln reproduzierte. Ein besonders wertvoller Schatz sind die faszinierenden Faksimilierungen holländischer Zeichnungen Rembrandts und anderer aus der Sammlung Kollowrath in Prag (Ku D 236).

    Auch im 20. Jahrhundert ermöglichte die Familie Vulpius einige wichtige Erwerbungen aus Ottilies Privatbibliothek. Sanitätsrat Walther Vulpius (1860-1944) – Enkel von Christian Vulpius – und sein Sohn, der Literaturwissenschaftler Wolfgang Vulpius (1897-1978), schenkten der heutigen HAAB einige reich bebilderte Bücher aus Ottilies Besitz. Erwähnt seien hier »The ancient music of Irland« (Dublin 1840, M 8:301 Abb. 5), das Ottilie von der befreundeten Schriftstellerin Anna Jameson erhielt, »Miniatur-Salon. Eine Sammlung von Stahlstichen nach berühmten Gemälden lebender Künstler« (Frankfurt 1846, N11017), ein Geschenk der berühmten Archäologin Sibylle Mertens-Schaaffhausen, »Die Wanderungen durch Pompeii« (Wien 1825, NE 716/1975 Abb. 6), eins der besten illustrierten Bücher über die Funde der Ausgrabungen, das auch Goethe mehrmals aus der Großherzoglichen Bibliothek ausgeliehen hatte und das der bereits erwähnte Gelehrte Romeo Seligmann Ottilie schenkte.

    Nachdem Ottilie von Goethes private Bibliothek jahrzehntelang über verschiedene Kulturinstitutionen der Stadt an der Ilm verstreut war, ist sie jetzt wieder vereint, und zwar in der großen Bibliothek, die den Namen einer anderen passionierten Leserin und Sammlerin trägt. Die Signaturen bleiben als Zeugen dieser wechselvolle Geschichte erhalten. Die Büchervermerke und Widmungen erzählen uns von den Vorlieben von Donator:innen und Sammler:innen im bewegten 19. Jahrhundert. Ein weiterer großer Schatz in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek kommt Stück für Stück ans Licht.

    Francesca Müller-Fabbri Kuratorin der Ausstellung

  • 29. August, 2022 — Spendenaufruf für den Erwerb des seltenen "Atlas Minor" von 1634

    Nachdem die Herzogin Anna Amalia Bibliothek 2021 ihre Atlanten-Sammlung durch die Übernahme der Sammlung Jürgen Espenhorst wesentlich erweitern konnte (siehe Supralibros 27), bietet sich nun die Gelegenheit zum Erwerb eines weiteren besonders seltenen Atlas:

    Es handelt sich um eine seltene deutschsprachige Ausgabe von Mercators Atlas Minor aus dem Jahr 1634. Der querformatige Atlas wurde erstmals 1628 in lateinischer Sprache veröffentlicht, 1630 erfolgte eine deutsche Auflage, die jedoch einige Fehler beinhaltete. In der hier vorliegenden zweiten deutschen Ausgabe von 1634 wurden diese Fehler korrigiert. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek besitzt bereits die lateinische Version dieses Werkes, eine deutschsprachige Ausgabe fehlt in der Sammlung allerdings bislang. Exemplare des Atlas Minor sind heute eine Seltenheit: In lediglich neun Bibliotheken in Deutschland konnte er nachgewiesen werden – allerdings in unterschiedlichen, schwer miteinander vergleichbaren Ausgaben.

    Wie viele Bücher aus der frühen Zeit des Buchdrucks, stellen die verschiedenen Exemplare immer Unikate dar, da erst die Besitzer den jeweiligen Einband anfertigen ließen. Außerdem finden sich in diesem Band historische Gebrauchsspuren, wie die Eintragung verschiedener früherer Kaufpreise und einige Annotationen im Text. Das angebotene Exemplar besitzt einen originalen, zeitgenössischen Einband aus Schweinsleder und einen antiken roten Blattschnitt.

    Der Herzogin Anna Amalia Bibliothek wurde der Atlas Minor in der zweiten deutschen Ausgabe von 1634 für den Preis von 10.000 Euro angeboten. Wenn Sie die Bibliothek bei dem Ankauf dieses seltenen und sehr wertvollen Buches unterstützen möchten, überweisen Sie Ihre Spende bitte auf das folgende Konto:

    Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e. V.
    Sparkasse Mittelthüringen IBAN DE76 8205 1000 0301 0404 00
    Kennwort: Spende Atlas Minor

    Vielen Dank schon jetzt für Ihre Unterstützung.

    Dr. Annette Seemann | Vorsitzende der GAAB c/o Herzogin Anna Amalia Bibliothek

  • 26. August, 2022 — „Musik aus Weimars Aschebüchern“ - Der Deutschlandfunk sendet das Benefizkonzert am 28. August 2022 ab 21.05 Uhr

    • Porträt Christoph Hammer

    Dieses ganz besondere Konzert fand am 7. August im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar statt. Christoph Hammer, Pianist, Dirigent, Musikwissenschaftler und Spezialist für historische Aufführungspraxis spielte auf einem 5-oktavigen klassischen Hammerflügel »Musik aus Weimars Aschebüchern«, aus Musikalien, die im September 2004 beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek beschädigt wurden. Dabei werden Sie neben Werken bekannter Komponisten auch einige Raritäten aus den Beständen der Bibliothek erleben.

    Der Erlös kommt der Restaurierung geschädigter Bücher und Musikalien zugute.

    Auf dem Programm u. a.:

    • Wolfgang Amadeus Mozart – 8 Variationen für Klavier F-Dur über den Marsch »Dieu d ́amour« aus der Oper »Les Mariages Samnites« von Grétry
    • Ludwig van Beethoven – 7 Variationen für Klavier F-Dur über das Quartett »Kind, willst du ruhig schlafen« aus der Oper »Das unterbrochene Opferfest« von Peter von Winter

    Maria Socolowsky GAAB

  • 08. August, 2022 — Eine Bibliothek für Frauen in Weimar. Natalie von Mildes Kampf für Bildungsgerechtigkeit und geistige Freiheit

    Emily Stopp (Jahrgang 2002) hat sich zum Abschluss ihres Freiwilligen Sozialen Jahres 2021/22 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek mit Natalie von Milde und deren Einsatz für die Frauenbewegung um 1900 beschäftigt. Im Rahmen des Projekts gestaltete sie eine Vitrinenpräsentation, die vom 10. August bis 12. September 2022 im Bücherkubus gezeigt wird. Zu sehen ist Natalie von Mildes Publikation »Ist die Frauenbewegung natürlich?«

    Außerdem entstand der folgende Blogbeitrag.

    Weimar an der Wende zum 20. Jahrhundert: Die Geschlechterrollen von Mann und Frau sind klar definiert. Während Männer ihre von der patriarchalen Gesellschaft begünstigte Freiheit in vollen Zügen ausleben, bleibt Frauen ein selbstbestimmtes Leben weitgehend vorenthalten und ihre Rolle auf Haushaltsführung und Kindererziehung beschränkt. Für die Frauenrechtlerinnen der Zeit war klar: Es muss sich etwas ändern. Natalie von Milde nahm sich dieser Herausforderung an, indem sie eigene Texte veröffentlichte und eine Bibliothek für Frauen gründete. Mit ihren Schriften und Werken schaffte sie es als erste Vorsitzende der 1900 in Weimar gegründeten Ortsgruppe des Vereins »Frauenbildung-Frauenstudium«, die Frauenbewegung erheblich zu beeinflussen. Sie setzte sich für eine Frauenförderung ein, die Frauen denselben Anspruch auf Bildung und Recht ermöglichen sollte wie Männern. Mithilfe des von ihr und ihren Mitstreiterinnen 1902 eingerichteten Lesezimmers für Frauen schuf sie einen sicheren Rückzugs- und Sammelort für Frauen und all diejenigen, die sich mit feministischer, politischer und sozialer Literatur auseinandersetzen wollten.

    Die Entwicklung eines freien Geistes

    Natalie von Milde, geboren am 31. März 1850, war die Adoptivtochter des Sänger-Ehepaars von Milde und wuchs in einer offenen und intellektuell geprägten Gesellschaft auf. Entgegen ihrem Wunsch, eine Schauspielausbildung und ein wissenschaftliches Studium zu absolvieren, drängten ihre Eltern sie zu einer musikalischen Laufbahn. Sie machte daraufhin eine Grundausbildung in Gesang und arbeitete lange Zeit als Gesangslehrerin. Durch ihren Beruf erhielt sie Einblicke in die Entwicklung von Kindern und wurde in diesem Zusammenhang auf die Benachteiligung der Mädchen auf Bildungs- und Gesellschaftsebene aufmerksam. Beeinflusst von ihrer eigenen Erziehung, entwickelte sie ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein. Das ermöglichte ihr eine kritische Sicht auf das damalige Frauenbild.

    Sie fing an, ihre Gedanken zur politischen und sozialen Stellung der Frau niederzuschreiben und veröffentlichte zwischen 1888 und 1904 insgesamt neun Schriften unter ihrem eigenen Namen im Selbstverlag. Dank ihres Engagements wurde sie zur ersten Vorsitzenden der von ihr gegründeten Abteilung Weimar des Vereins »Frauenbildung-Frauenstudium« gewählt. Den Vorsitz behielt sie bis zu ihrem Tod 1906 inne.

    »Frauenfrage ist das Verlangen nach Gewährung aller geistigen Mittel, die zu ihrer Entwicklung nötig sind« – Natalie von Milde

    Über den Verein

    Der Verein Frauenbildung-Frauenstudium, gegründet 1895 in Berlin, ging aus der ersten bürgerlichen Frauenorganisation Deutscher Frauenverein – Reform hervor, den Hedwig Kettler 1888 in Weimar gründete und leitete. Seine Ideale wurden als »radikal« feministisch angesehen. Den Organisationsmitgliedern ging es um gleichwertige Bildung zur politischen und sozialen Förderung der Frau mit dem Ziel des Wahlrechts.

    Natalie von Milde gründete 1900 in Weimar eine Ortsgruppe des Berliner Vereins »Frauenbildung-Frauenstudium«. Die Ortsgruppe zählte rund 370 Mitglieder. Sie veranstaltete geschlossene Teeabende mit Lesungen und politischen, sozialen und historischen Vorträgen.

    Das Lesezimmer für Frauen

    Mithilfe von Spenden war es Natalie von Milde schließlich möglich, 1902 das »Lesezimmer für Frauen« einzurichten, das innerhalb von fünf Jahren bereits über 3.000 Besucher:innen fand: hauptsächlich Frauen aller Altersgruppen und sozialer Schichten, aber auch Männer. Die Buchbestände des Lesezimmers setzten sich zu einem großen Teil aus Natalie von Mildes Privatbibliothek zusammen. Darunter befanden sich Werke von Stimmrechts- und Frauenaktivistinnen, Frauenzeitschriften, historische und wissenschaftliche Schriften, Werbebroschüren und politische Flugblätter sowie Werke über die Zulassung der Frauen an Hochschulen und ihre Rechtsstellung im Staat.

    Da sich das Lesezimmer inmitten der sogenannten Froriepschen Häuser befand, zwischen dem alten Bertuchhaus und dem heutigen Weimarer Stadtmuseum, wurde es für den Bau der neuen Kongresshalle 1931 abgerissen. Das bedeutete das Ende des Lesezimmers. Nach Natalie von Mildes Tod hatte Selma von Lengefeld den Posten der Vorsitzenden übernommen. Sie organisierte die Schenkung der Lesezimmer-Bibliothek mit insgesamt 1.211 Titeln an die Thüringische Landesbibliothek, eine Vorgängerinstitution der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

    »Sie war für unsere konservative Stadt Weimar die denkbar geeignetste Persönlichkeit, die Sache der Frauen anzubahnen und zu führen« – Hildegard Obrist-Jenicke

    Noch immer aktuelle Fragen

    In Natalie von Mildes Vortrag »Ist die Frauenfrage natürlich?« und in ihrem Werk »Frauenfrage & Männerbedenken« erläutert sie Schritt für Schritt und anhand verschiedener Bereiche die Bedeutung der Frauenbewegung und wie man sie fördern kann und sollte.

    Für Natalie von Milde war die Frauenfrage eine allgemeine Menschheitsfrage und vertritt die Interessen eines jeden Mitglieds der Gesellschaft. Wer für die Frauenfrage eintritt, kämpft für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in einem patriarchalen System, welches Männer ebenso beeinflusst und einschränkt. Das Ziel der Frauenbewegung ist daher, die Entfernung und Entfremdung zwischen den Geschlechtern und Schichten zu beseitigen. Ansichten und Ideale, die in der Gesellschaft noch heute verhandelt werden.

    Mit ihrem Vermächtnis schaffte es Natalie von Milde, die Frauenbewegung in Weimar bis weit nach ihrem Tod zu beeinflussen. Der Bücherbestand des von ihr gegründeten Lesezimmers, in den auch ihre eigene Bibliothek einging, wird noch heute in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek bewahrt und interessierten Nutzer:innen zur Verfügung gestellt. Er ist als »Sammlung Bibliothek des Vereins Frauenbildung – Frauenstudium, Abteilung Weimar« im Online-Katalog der Herzogin Anna Amalia Bibliothek nachgewiesen. Über die Funktion »verwandte Publikationen« kann die Sammlung abgerufen und eingesehen werden.

    Zum Weiterlesen:

    Jens Riederer: Das Lesezimmer des »Vereins Frauenbildung-Frauenstudium« (SupraLibros 2019).
    Jonah Martensen: Natalie von Milde – Weimars vergessene Feministin

    Emily Stopp - Absolventin eines Freiwilligen Sozialen Jahres in der Kultur in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

  • 03. August, 2022 — Musik aus Weimars Aschebüchern - Benefizkonzert "Grundton D" zugunsten der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 7. August 2022 | 17 Uhr im Bücherkubus

    • Der Pianist Christoph Hammer

    Ein ganz besonderes Konzert erwartet Musikfreunde am 7. August um 17 Uhr im Bücherkubus. Christoph Hammer, Pianist, Dirigent, Musikwissenschaftler und Spezialist für historische Aufführungspraxis, bringt im Programm »Musik aus Weimars Aschebüchern« Musikalien aus dem Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zum Klingen, die beim Brand 2004 beschädigt wurden. Dabei werden Sie neben Werken bekannter Komponisten auch einige Raritäten aus den Beständen der Bibliothek erleben.

    Der Solist Christoph Hammer ist seit 2017 Professor für historische Tasteninstrumente am Leopold-Mozart-Zentrum der Universität Augsburg. Er wird das Konzert auf einem 5-oktavigen klassischen Hammerflügel spielen. Das Konzert ist Teil der Reihe Grundton D, die der Deutschlandfunk (DLF) seit über 30 Jahren in Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD) veranstaltet.

    Der Erlös kommt der Restaurierung geschädigter Bücher und Musikalien zugute.

    Auf dem Programm u. a.:

    • Wolfgang Amadeus Mozart – 8 Variationen für Klavier F-Dur über den Marsch »Dieu d ́amour« aus der Oper »Les Mariages Samnites« von Grétry
    • Ludwig van Beethoven – 7 Variationen für Klavier F-Dur über das Quartett »Kind, willst du ruhig schlafen« aus der Oper »Das unterbrochene Opferfest« von Peter von Winter

    MUSIK AUS WEIMARS ASCHEBÜCHERN

    Benefizkonzert mit Christoph Hammer im Bücherkubus des Studienzentrums
    Sonntag, 7. August 2022 | 17 Uhr
    Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Studienzentrum, Bücherkubus
    Eintritt: 25 Euro, ermäßigt: 15 Euro
    Zum Ticketshop: https://tickets.klassik-stiftung.de/#/product/event/5804
    Restkarten an der Abendkasse ab 16:30 Uhr

    Der Deutschlandfunk strahlt das Benefizkonzert am 28. August 2022 ab 21.05 Uhr im Rahmen der Sendung Konzertdokument der Woche aus.

    Maria Socolowsky GAAB und Klassik Stiftung Weimar Pressemitteilung