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‹ alle Blogartikel anzeigen30. Oktober, 2022 — Einblattdrucke in der HAAB und ihre Geschichte – Folge 3: Claras große Reise
In der dritten Folge geht es wieder um ein Tier, das im 18. Jahrhundert zu einer Berühmtheit wurde. Allerdings verbreitete es nicht Angst und Schrecken wie die Bestie des Gevaudan aus der letzten Folge, sondern sorgte für Erstaunen und Begeisterung unter den Menschen. Es war exotisch, es war riesig und es begab sich auf eine spektakuläre »Event-Tour« durch ganz Europa. Dies sind die Abenteuer des Rhinozeros Clara, das mit seinem Besitzer 17 Jahre lang unterwegs war, um viele tausend Kilometer von der Heimat entfernt, in Städten aufzutreten, in denen nie zuvor ein lebendes Nashorn gesehen wurde.
Das Reichsmuseum Amsterdam widmet Clara vom 30. September 2022 bis zum 15. Januar. 2023 eine Sonderausstellung unter dem Titel »Clara und die Krabbeltiere – Vom Horror zum Wunder«. Zu sehen ist u. a. ein großes Gemälde aus dem Staatlichen Museum Schwerin, für dessen Transport sogar Wände des Schweriner Museums geöffnet werden mussten.
Claras Leben begann dramatisch, denn Jäger hatten ihre Mutter erschossen, als sie gerade einmal einen Monat alt war. In freier Wildbahn hätte das bereits ihren sicheren Tod bedeutet, doch Clara wurde im Haushalt des Generalkonsuls der Niederländischen Ostindien-Kompanie in Bengalen aufgenommen, dort aufgezogen und an den Umgang mit Menschen gewöhnt. 1740 war das Tier zu groß geworden und deshalb an den niederländischen Kapitän Douwe Jansz Mout verkauft. Ihm gelang es, das Rhinozeros sicher auf dem Seeweg in seine Heimatstadt Leiden zu transportieren, wo er das Seefahrerdasein sofort aufgab, um seinen Lebensunterhalt zukünftig mit der zur Schaustellung Claras zu verdienen. Doch ein derart spektakuläres und beispielloses Unternehmen bedurfte einiger Vorbereitungen, die der ehemalige Kapitän mit großem Sachverstand und Geschäftssinn meisterte.
Zunächst einmal musste er für eine ausreichende Ernährung von Clara sorgen, was bei bisherigen Versuchen, Nashörner in Europa zu halten, unterschätzt wurde und in der Folge zum baldigen Tod der Tiere führte. Claras Nahrung bestand im Wesentlichen aus großen Mengen Stroh und Brot. Je nach Möglichkeit erhielt sie darüber hinaus einige der von ihr sehr geliebten Orangen. Zu trinken bekam sie – wie die Menschen seinerzeit auch – hauptsächlich Bier. Das hatte damals einen deutlich niedrigeren Alkoholgehalt als heute und wurde wegen seiner keimtötenden Eigenschaften und seiner längeren Haltbarkeit dem Wasser oft vorgezogen. Neben dem Bier war der Genuss von Tabak weit verbreitet, dessen Geruch Clara ebenfalls zu schätzen wusste.
Bei der Planung der Reiseroute und beim Bau eines Transportwagens für das schwere Tier kamen Douwe Jansz Mout seine Erfahrungen als Seefahrer zugute. Der Transportwagen ist auf einem Gemälde von Claras Besuch in Venedig zu sehen und kann als Beleg für dessen einmalige und zweckmäßige Konstruktionsweise dienen. Ein Nashorn wird in Gefangenschaft maximal 40 Jahre alt, weshalb das Alter von immerhin 20 Jahren, das Clara trotz ihrer langen und wenig artgerechten Reise erreichte, durchaus der für damalige Verhältnisse guten Pflege durch seinen Besitzer zugeschrieben werden kann.
Doch so zweckmäßig der Transportwagen auch konstruiert war, konnte er doch nicht alle Erschütterungen abfangen, die von den holprigen Straßen und Wegen im 18. Jahrhundert verursacht wurden. Daher plante der ehemalige Kapitän die Reiseroute, die ihn und Clara 1746/47 zunächst von Leiden nach Hannover und danach über mehrere Stationen nach Breslau und Wien führte, unter maximaler Ausnutzung der See- und Binnenschifffahrtswege. Die immensen Kosten des Unternehmens sollten von den Einnahmen möglichst mehr als gedeckt werden. Deshalb startete Douwe Jansz Mout die größte und erfolgreichste Werbekampagne seiner Zeit. Die gelang ihm vor allem mit Hilfe von Einblattdrucken, auf denen seine Attraktion Clara dargestellt und beschrieben war. Sie wurden in seinem Auftrag an verschiedenen Orten hergestellt und teils von ihm selbst
zum Kauf angeboten.Diese Einblattdrucke, von denen sich bis heute mehr als zwanzig verschiedene Beispiele erhalten haben, erfüllten einerseits den Zweck eines Werbeflyer, andererseits waren einige von ihnen auch als Souvenir im Rahmen der Veranstaltung erhältlich. Allen Blättern ist gemeinsam, dass Clara entsprechend ihrer Größe breiten Raum in der bildlichen Darstellung einnimmt. Der Text enthält immer Angaben zu Herkunft, Nahrung, angeblichen Verhaltensweisen in freier Wildbahn und natürlich zum Aussehen des Nashorns. Darunter waren auch Fehleinschätzungen, wie die seit der Antike tradierte Mär, dass Nashörner Elefanten mit ihrem Horn töten und die Annahme, dass sie 100 Jahre alt werden können. Individuelle Textzusätze auf vielen der erhaltenen Drucke kündigen die jeweils geplante Aufenthaltsdauer in verschiedenen Städten sowie die Höhe des Eintrittsgelds an. Der in der HAAB erhaltene Einblattdruck zeigt im linken Teil der bildlichen Darstellung ein Segelschiff und davor einen Matrosen, der Clara einen Schluck aus seinem Glas anbietet. Der Text enthält keine »Tourdaten«, weshalb es sich möglicherweise um einen der Drucke handeln könnte, die als Souvenir direkt beim Veranstalter erworben werden konnten.
Claras Tour sorgte in ganz Europa für immenses Aufsehen, weshalb Adlige, Fürsten und Könige es sich nicht nehmen ließen, das Nashorn höchstselbst in Augenschein zu nehmen. In Berlin war Friedrich der Große derart beeindruckt, dass er Douwe Jansz Mout insgesamt 18 Golddukaten zukommen ließ. In Wien erwies ihm Maria Theresia die Ehre und war so begeistert, dass sie seinem niederländischen Besitzer einen Adelstitel verlieh. Von nun an war »Herr van de Meer« mit Clara unterwegs, was sich natürlich positiv auf den weiteren Verlauf seines Unternehmens auswirkte. Von Wien ging die Reise weiter durch Süd- und Mitteldeutschland – unter anderem mit Stationen in Regensburg, Dresden und Leipzig. In Meißen entstand zu diesem Anlass eine Porzellanfigur, deren Vorbild nun nicht mehr das von Albrecht Dürer einst gezeichnete Nashorn mit dem zweiten Horn auf dem Rücken war, sondern Clara. Noch heute bietet die Nymphenburger Porzellanmanufaktur eine entsprechende Figur mit ihrem Namen an.
Weitere Höhepunkte der Reise waren 1749/50 Versailles und Paris, wo der französische König Ludwig XV. das Nashorn gerne für seinen privaten Zoo erworben hätte. Doch der Preis, den van de Meer nannte, entsprach in etwa dem dreifachen Jahreseinkommen des Königs, weshalb er von diesem Einkauf absehen musste. Van de Meer gönnte seiner Clara während der Europatournee immer wieder längere Erholungsphasen, die beide dann zurück nach Leiden führten, wo van de Meer mittlerweile geheiratet und eine Familie gegründet hatte.
1757/58 brachen er und sein Rhinozeros schließlich zu ihrer letzten Reise nach London auf, wo Clara kurz darauf im Alter von etwa 20 Jahren plötzlich und aus unbekannten Gründen verstarb. Bis dahin hatte sie eine unglaubliche Berühmtheit in ganz Europa erlangt. Sie wurde auf Kupferstichen in Büchern und auf Gemälden verewigt und war Motiv verschiedener kunsthandwerklicher Produkte wie Porzellanfiguren und Uhren. In Erwartung ihres Besuchs kreierten Coiffeure in Florenz sogar eine Frisur »a la rhinocéros«. Noch lange nach ihrem Tod fand sie Erwähnung in Briefen, Gedichten und anderen Erinnerungen. Bis heute wirkt Claras Leben in Gestalt von Büchern und Ausstellungen nach. Jüngstes Beispiel ist das Erscheinen eines Spiels für Kinder, das nach ihr benannt ist. Die Spur von Claras Besitzer dagegen verliert sich nach ihrem Tod. Sehr wahrscheinlich kehrte er zurück nach Leiden und verbrachte dort den Rest seines Lebens im Kreise seiner Familie – und das vermutlich, dank Clara, finanziell gut abgesichert.
Signatur des Einblattdrucks: 19 B 10697
Matthias Hageböck Mitarbeiter der HAAB Bestandserhaltung/Restaurierung