Teil der Globensammlung der »Herzogin Anna-Amalia Bibliothek«

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  • 18. Juli, 2023 — Junge Europäische Sommerschule – Nächster Halt: Eisenach. Wanderung zur Wartburg

    Die Entdeckung des Thüringer Waldes mit seinem bunten Strauß aus grünen und braunen Farben fand heute geschützt unter den Bäumen statt, die uns ein schattiges Plätzchen schenkten. Der Aufstieg zur Wartburg war wegen der Hitze definitiv unsere Herausforderung an diesem Tag. Und was für ein Ergebnis! Wunderschöne Steingebäude, ein herrlicher Blick auf den Wald und ein kühler Wind. Und natürlich eine wohlverdiente Mahlzeit. Nach den Erklärungen unseres Kursleiters, Herr Kahl, konnten wir uns ausruhen und unsere Brotzeit genießen. Der Besuch des Berges wird uns sicherlich in Erinnerung bleiben. Wir besichtigten Räume, die immer noch schöner und reicher verziert waren als der davor. Die Museumsführerin erklärte uns, wie das Leben dort organisiert war und was die vielen Gemälde an den Wänden darstellen. Wir haben also viel über die Bewohner und die wechselvolle Geschichte der Wartburg mit ihrem europäischen Bezug gelernt. Nach dieser unglaublichen Führung stiegen wir gemütlich von der Wartburg über einen kleinen, ziemlich romantischen Waldweg hinunter. Auf dem Weg hielten wir einige Minuten an einem Teich an, in den sich einige sogar mit den Füßen trauten, bevor wir zum Bahnhof gingen und wieder in den Zug stiegen.

    Mein Name ist Apolline und ich komme aus Frankreich. Ich muss zugeben, dass ich überhaupt nicht wusste, dass es dieses Schloss gibt. Für mich war diese Entdeckung also völlig überraschend. Den ganzen Tag über war ich von der Architektur der Wartburg begeistert.

    Mein Name ist Simon und ich bin aus Deutschland. Obwohl ich die Wartburg schon vor längerer Zeit besucht habe, gab mir diese Exkursion eine völlig neue Perspektive auf deutsche und europäische Geschichte.

    Mein Name ist Elżbieta und ich komme aus Polen. Der Besuch auf der Wartburg war für mich besonders wichtig und interessant, weil ich meinen Name mit Elisabeth von Thüringen teile, die dort im 13. Jahrhundert gewohnt hat. Ich freue mich sehr, dass ich an dieser Exkursion teilnehmen konnte.

    Apolline (Frankreich) – Simon (Deutschland) – Elżbieta (Polen)

  • 14. Juli, 2023 — Junge Europäische Sommerschule – Auf den Spuren Goethes

    Heute, am 13. Juli, begannen wir unseren Tag mit einem Lektüreseminar über die Freundschaft zwischen den zwei wichtigsten Dichtern der Weimarer Klassik, Goethe und Schiller. Die Einführung in das Thema wurde von Dr. Paul Kahl geleitet, wobei er uns sowohl ihre Lebens- und Denkweise als auch ihre Beziehung miteinander und mit der Literatur vorgestellt hat.

    Ein anderes angesprochenes Thema war die nationale Identität, durch ein Distichon, eine der sogenannten »Xenien«. Da wir aus verschiedenen Länder und Kulturen Europas kommen, hatten wir unterschiedliche Meinungen, die wir in einem interaktiven Gespräch geäußert haben. Es war eine angenehme Erfahrung, durch Multikulturalität die Welt dieser beliebten Schriftsteller zusammen zu entdecken. Dies wurde später durch die Arbeit an unseren Projekten in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek fortgesetzt.

    Zwischen den Bücherregalen begann jetzt unsere Recherche. Unsere Projekte zu verschiedenen Themen, an denen wir mit viel Begeisterung arbeiten, werden wir nächste Woche Freitag als Abschlussprodukt präsentieren. Das Highlight des Tages war die Besichtigung des Hauses von Goethe hier in Weimar. Wir waren so beeindruckt von dem Gefühl der Dichtung, welches sich in der Luft befand, dass wir gerne mehr Zeit zwischen den Geistern der Geschichte verbracht hätten, aber wir waren schon hungrig.

    Nach dem Abendessen beginnt unsere Lieblingsaktivität, nämlich Freizeit. Zusammen legten wir bunte Picknickdecken in den Garten der Wieland Akademie in Oßmannstedt. Sprechend, lachend, spielend vergessen wir alles und bemerken gar nicht die verpassten Stunden. Müde und voller Vorfreude auf den nächsten Tag gehen wir zurück in unsere Zimmer. Der Tag endet mit guter Laune und einer sehr warmen Nacht, wobei wir schon fast schlafend die Sterne anschauen.

    Andreea (Rumänien) – Petra (Rumänien) – Jaroslava (Lettland)

  • 12. Juli, 2023 — Junge Europäische Sommerschule 2023 - Ankunft und erste Begegnungen

    Sie kommen aus Italien, Frankreich, Lettland, Nordmazedonien. Polen, Rumänien, Slowenien und aus Deutschland, die 17 Mädchen und Jungen, die an der Jungen Europäischen Sommerschule 2023 teilnehmen. Die JES bietet 16- bis 19-jährigen Schülerinnen und Schülern aus Deutschland und dem europäischen Ausland mit guten Deutschkenntnissen (Niveau B2) die Möglichkeit, zwei Wochen lang in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu ausgewählten Themen zu arbeiten. 2023 dreht sich alles um die Frage »Heimat Europa?« Im Blog der GAAB werden die Mädchen und Jungen über ihre Arbeit in der Bibliothek und über die Erlebnisse berichten – zum Auftakt drei Mädchen aus Italien.

    Erste Begegnungen in Weimar

    Hallo zusammen, wir sind Chiara, Carlotta und Giuliana. Wir drei sind 17 Jahre und kommen alle aus Italien, aber aus verschiedenen Gegenden: Carlotta kommt aus Trentino-Südtirol, Chiara und Giuliana aus Friaul-Julisch-Venetien.

    Am Dienstag, den 11. Juli, hatten wir nach dem Frühstück im Wielandgut Oßmannstedt von 9 bis 11 Uhr ein Lektüre-Seminar bei Dr. Paul Kahl. Das bot uns die Gelegenheit, einige Texte von Goethe zu lesen, sie im Detail zu analysieren und die Bedeutung zu verstehen. Danach ging es mit der Bahn von Oßmannstedt nach Weimar. Nach einem Mittagessen in Weimar und einer kurzen Pause fanden wir uns alle vor Schillers Haus wieder.

    Sobald wir es betraten, fühlten wir uns überwältigt von der Welt Schillers, eines deutschen Dichters, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte.
    Im ersten Stock besichtigten wir sein Esszimmer und im zweiten Stock sahen wir sein Arbeitszimmer. Das ist der Ort, an dem Schiller die meiste Zeit verbrachte und wo wir noch seinen Schreibtisch und sein originales Bett sehen konnten.
    Es war sehr interessant und wichtig für uns, mehr darüber zu erfahren, wie Schiller lebte, auch um die historische Zeit, in der er lebte. besser zu verstehen.

    Nach dem Besuch des Schillerhauses und einer kurzen Erfrischungspause, die uns bei den hohen Temperaturen sehr willkommen war, machten wir uns auf den Weg zur Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

    In dem Seminarraum, der uns auch in den nächsten Tagen zur Verfügung stehen wird, erhielten wir die Bibliothekskarten. Die gewähren uns den Zugang zu den höheren Stockwerken. Dadurch können wir mehrere und spezifischere Bücher für unsere Recherchen verwenden. Wir fühlten uns bereits wie richtige Studentinnen Weimars!

    Dann gab es für uns eine ausführliche Führung durch die Bibliothek. Wir alle waren bezaubert vom inneren »Bücherkubus«. Er bietet eine Vielzahl an Büchern und für alle Einwohner:innen und Besucher:innen der Stadt zugänglich. Ebenso interessant und bezaubernd war es, die anderen Stockwerke und Räume zu besichtigen und das Ausleihsystem genauer kennenzulernen. Außerdem wurde uns das Onlineportal erklärt, das wir auch in Oßmannstedt benutzen können.

    Nach der Besichtigung der Bibliothek war es auch schon Zeit, mit dem Zug in unser Quartier in Oßmannstedt zurückzukehren. Wir konnten sogar noch ins Freibad gehen, um den Abend schön ausklingen zu lassen.

    Wir freuen uns schon auf die nächsten Tage!

    P. S. Partner der Jungen Europäischen Sommerschule sind die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V., die Klassik Stiftung Weimar und die Literarische Gesellschaft Thüringen e.V., finanzielle Förderer die Friedrich-Stiftung, die Thüringer Staatskanzlei, die Kulturstiftung des Freistaats Thüringen und ebenfalls die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V.

    Auf dem Gruppenfoto sind zu sehen (von links nach rechts):
    Hintere Reihe: Paul Kahl (Seminarleiter), Finn (Deutschland, Jahrgang 2005), Matthias (Deutschland, 2005), Simon (Deutschland, 2005), Jaroslava (Lettland, 2007), Petra (Rumänien, 2005), Nina (Slowenien, 2006), Elzbieta (Polen, 2006), Apolline (Frankreich, 2006), Lisa (Frankreich, 2006), Tatjana (Nordmazedonien, 2006), Carlotta (Italien, 2005), Mila (Nordmazedonien, 2005)
    Vorn: Giuliana (Italien, 2006), Andreea (Rumänien, 2006), Mia (Nordmazedonien, 2005), Chiara (Italien, 2005).

    Carlotta - Chiara - Giuliana (JES) Theresa Funke (Seminar-Assistentin) Maria Socolowsky GAAB

  • 10. Juli, 2023 — »Mauersegler im Bücherkubus« – In der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek ehren Freunde und Weggefährten den verstorbenen Lyriker Wulf Kirsten

    Ob es ihm an diesem Abend zu laut gewesen wäre? In einer Bibliothek hat schließlich Stille zu herrschen. Bestimmt hätte der Dichter Wulf Kirsten diesmal eine Ausnahme gemacht. Denn seine Gedichte lernte er nach eigenem Bekunden erst beim lauten Lesen richtig kennen. Und maß sie an der Reaktion des Publikums, dem Beifall und der Qualität der Stille.

    Publikum ist reichlich anwesend, jeder Platz im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) ist besetzt. Eingeladen haben die Stadt Weimar, die HAAB und die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek, die Literarische Gesellschaft Thüringen sowie der Thüringer Literaturrat. Familie, Freunde, Weggefährten und Dichterkollegen begrüßen einander. Man nickt sich zu, schüttelt Hände an diesem warmen Sommerabend kurz nach der Sommersonnenwende, dem Geburtstag des 2022 verstorbenen Lyrikers.

    Das Podium spricht über Kirsten, vor allem aber spricht es mit ihm, indem es ihn zitiert. Jeder trägt sein oder ihr Lieblingsgedicht vor. Begeistert und auswendig Pia-Elisabeth Leuschner vom Lyrikkabinett München, vorsichtig tastend der Romanist Edoardo Costadura, die Worte auskostend der Lyriker Jan Volker Röhnert, mit verschmitzter Entdeckerfreude der Herausgeber Jens-Fietje Dwars – alles klug moderiert von Christoph Schmitz-Scholemann. Die kräftige Sprache lässt keine Wehmut aufkommen, es prasselt, rollt, es zwitschert, und die Gedichte verströmen ihr Bukett, deutsch, italienisch bei Edoardo Costadura, französisch bei Kirsten-Übersetzer Stéphane Michaud, der extra aus Paris angereist ist.

    Kein Gourmet-Schnickschnack, nein, ein handfester Landwein wuchs aus der Erde bei Meißen. Von Mauerseglern ist die Rede und vom Obstpflücker Oswin aus dem Armenhaus. Von der Wirtstochter Margarete, der Franz Kafka in Weimar nachstieg. Von Landschaften und Landwirtschaft. Von Sachen und Satzanfängen, von Erdung, von Sinnlichkeit. Poesie als Weltsprache, versunkene Wörter, »gediegene Frankophonie« und obersächsische Mundart, und man schmeckt die Worte im Gaumen und sinnt den erdfarbenen Bildern nach, die sie erzeugen. Die literarisch Gebildeten im Podium stellen Bezüge her zu Hölderlin, Rilke oder Goethe. Interessant, denkt man, ein doppelter Boden. Es braucht ihn nicht, damit diese Lyrik einen ergreift, doch ihr wächst damit eine weitere Dimension zu.

    Wieviel bleibt heute von dieser Tiefe, wenn Germanistik-Studenten Goethe nicht rezipieren und Schüler Gedichte nicht lernen müssen? Wenn jeder vierte Viertklässler nicht gut lesen und schreiben kann, Bibliotheken verwaisen und Literatur als Digitalisatbrei im smarten Einheitslook daherkommt? Wulf Kirstens enzyklopädisches literarisches Wissen, sein akribisches Sprachgefühl scheinen aus dieser Zeit gefallen. Und doch, mit seinen genauen Beobachtungen und seiner Verbundenheit zur Natur, seinem beharrlichen Einsatz gegen ihre Zerstörung und die Hybris der Menschen kann er gerade für die Generation Klimakatastrophe eine große Entdeckung sein.

    Vielleicht hilft dabei ein letztes Buch: »Nachtfahrt« heißt der Band mit Texten aus dem Nachlass, den Jens-Fietje Dwars im quartus Verlag herausgegeben und den Susanne Theumer mit Grafiken illustriert hat. Und in der HAAB kann man künftig Wulf Kirstens poetischen Kosmos erkunden. Wie Bibliotheksdirektor Reinhard Laube ankündigt, findet Kirstens Lyriksammlung hier ein neues Zuhause. 65 Regalmeter Poesie, in einem langen Leben gesammelt, verdaut und verdauert. In einer Leselounge, die im nördlichen Teil der Bibliothek entsteht, kann man auf lyrische Entdeckungsreise gehen. Und hört dabei vielleicht die Mauersegler im Kubus kreisen.

    Wulf Kirsten: »Nachtfahrt. Autobiografische Prosa aus dem Nachlaß«
    Herausgegeben von Jens-Fietje Dwars.
    Reihe Ornament-Essay, Bd. 2, quartus Verlag, Weimar, 2023, ISBN 978-3-947646-52-4, 22 Euro.

    Die Veranstaltung wurde mitgeschnitten und ist am 1. August auf Radio Lotte 
    und ab 2. August als Podcast unter www.literaturland-thueringen.de nachzuhören.

    Anke Engelmann - Autorin Journalistin und Herausgeberin

  • 21. Juni, 2023 — Wo aber bleibt die reine Poesie? Die Bibliothek meines Vaters

    • Die Lyriksammlung von Wulf Kirsten, © Jens Kirsten

    Als meine Eltern Mitte der 1960er Jahre nach Weimar zogen, brachten sie Wulf Kirstens im Entstehen begriffene Bibliothek aus Freiberg mit. Vorläufig noch fristete sie ihr Dasein in Koffern und Kartons, die unter den Betten aufbewahrt wurden. In der Puschkinstraße 1, wo der Berliner Aufbau-Verlag eine Dependance eröffnet und mein Vater eine Stelle als Lektor angetreten hatte, hauste die Familie in zwei Dachkammern, bevor später eine Teilwohnung in der Prellerstraße bezogen werden konnte.

    In den ersten Weimarer Jahren muss der Umfang dieser Kofferbibliothek dann sprunghaft angestiegen sein. Meine ersten Erinnerungen, die sich mit der Prellerstraße verbinden, schließen ein wandfüllendes Leiterregal in unserer Parterrewohnung ein, das lediglich eine Türöffnung aussparte. Hinter einem Vorhang lag unser schmales Kinderzimmer, in das man buchstäblich durch eine Bücherwand gelangte. Als Vierjähriger machte ich eines Tags einen Rundgang durch die zweieinhalb Zimmer und die Küche, wobei ich den von einer dubiosen Alten mitbewohnten unheimlichen Flur queren musste, die uns regelmäßig bei der Kriminalpolizei anzeigte, wenn »schon wieder etwas passiert war« – meist handelte es sich um ein gestohlenes Brikett aus dem gemeinsam genutzten Keller. Von Langeweile geplagt, traf ich die übrigen drei Familienmitglieder lesend an. Sie hatten es sich mit Büchern bequem gemacht und waren gleichsam abwesend. Keiner war bereit, seine Lektüre zu unterbrechen, um mir etwas vorzulesen. So verkündete ich wütend: »Wenn ich groß bin, verbrenne ich alle Bücher und alle Kataloge!« Das holte sie aus ihrer Abwesenheit, besonders die Erwähnung der Kataloge. Ich lernte dann lesen und tat es
    den anderen bald täglich gleich. Dass ich nicht in Lesestoffnot geriet, dafür sorgte mein Vater. Über kurz oder lang las ich auch besagte Kataloge, genau genommen den Bestellkatalog des Börsenblattes, in dem Vater regelmäßig bestellte und ich Kreuze machen durfte, wo es mir beliebte. Denke ich an Geburtstage oder Weihnachten zurück, so gehörten hohe Bücherstapel immer zu den Geschenken.

    Über 60 Jahre wuchs Wulf Kirstens Bibliothek, deren Herzstück seine Sammlung deutschsprachiger Lyrik bildete. Das Privileg, über den Verlag und das Börsenblatt Bücher auf eigene Rechnung bestellen zu können, nutzte er weidlich aus. In den 60er, 70er und 80er Jahren gab es republikweit noch Antiquariate, in denen sich Literatur aus der Zeit vor den beiden Weltkriegen entdecken ließ. Vor allem in Prag, wo deutschsprachige Literatur nur bei wenigen auf dem Urlaubswunschzettel stand, fand er manche literarische Kostbarkeit. Sein Bruder Rainer betrieb einen Altstoffhandel in Wilsdruff und sammelte für ihn in einer Truhe Raritäten.

    Nach dem Umzug in die erste eigene Wohnung holte die Bibliothek tief Atem und breitete sich auf 150 Quadratmetern aus. Das Arbeitszimmer kleidete ein Tischlermeister rundherum mit Regalen und Bücherschränken aus. Fortan blieb es der Lyriksammlung vorbehalten. Im knapp 30 Quadratmeter großen Wohnzimmer füllte eine Bücherwand die Längsseite, eine Abstellkammer wurde zur kleinen Bibliothek, wo die Regale nicht nur entlang der Wände, sondern auch in der Mitte, Rücken an Rücken, standen. Kontinuierliches Wachstum brachten Reihen, auf die mein Vater abonniert war. Etwa das »Poesiealbum«, deren viertes Heft ihm eine erste eigenständige Publikation bescherte. Dazu gehörte die Inselbibliothek und die Reihe »Lyrik international« des Verlags Volk und Welt. Auf dem Dachboden, wo uns zwei Kammern zugesprochen waren, bezogen Reclamhefte und Zeitschriften ihr Quartier.

    Nach dem Ende der DDR musste die großzügig bemessene Wohnung aufgegeben werden, da sich ein Alteigentümer fand, der hier sanieren wollte. Eine Wohnung in derselben Straße, vierzig Hausnummern niedriger, wurde gefunden. Die kleinere Wohnung vermochte die auf Zuwachs angelegte Bibliothek bei weitem nicht zu fassen. Ein trockener Keller erwies sich als Glücksumstand für einstige Dachbodenbestände. Einiges musste veräußert werden. So einige Reihen und eine Sammlung deutschsprachiger Literatur aus Siebenbürgen. Herz- und Kernstück blieb die Lyriksammlung, die nach 1990 einen neuerlichen Wachstumsschub erhalten hatte. 1993, als Wulf Kirsten Stadtschreiber in Salzburg war, freundete er sich mit einem hochbetagten Antiquar an, in dessen labyrinthischem Laden längst unauffindbar geglaubte Titel zu haben waren, die Käufer und Verkäufer glücklich machten. Noch einmal mussten 1995 Regale in ein Arbeitszimmer eingepasst werden. Die Regale wuchsen bald darauf Wand um Wand erst um eine aufgesetzte Reihe, dann um eine zweite, die jeweils alle querliegenden Bücher vorübergehend in die Senkrechte zurückholten, dann wuchsen die Titel in nahezu allen Fächern in die zweite Reihe und schließlich lagen neu hinzukommende Bücher bis hoch an die Decke wieder quer obenauf.

    Bei all dem war Wulf Kirsten kein Sammler, der sich an der Vollständigkeit erfreute, sondern einer, der täglich mit seiner Sammlung arbeitete, was den Büchern, denen viele Zettel und Zeitungsauschnitte eingeschoben wurden, anzusehen ist. Das Faszinierende war für mich, dass mein Vater, wenn ich ihn um literarischen Rat fragte, stets mit traumwandlerischer Sicherheit ins Regal griff, den betreffenden Band herauszog und alle nötigen Informationen über Buch und Autor extemporierte. Mitunter zog er auch die passende Karteikarte aus seinem in Karteikästen untergebrachten Schriftstellerlexikon, das sich selbstredend nicht auf Dichter beschränkte. Als ich zu Harry Domela forschte und in Jeff Lasts Buch »Vingers van de linkerhand« las, dass Domela ein Manuskript mit dem Titel »Hinter den Kulissen einer Sensation« mit zu ihm nach Amsterdam gebracht hatte, fand ich auf der entsprechenden Karteikarte den Eintrag »Hinter den Kulissen einer Sensation«, schräg darüber stand »Ms. bei Günter Kunert«.

    Illustrieren soll meine Abschweifung seine Akribie und vor allem die kommunizierenden Röhren, Bücher einerseits, Lexika andererseits. Und was die kommunizierenden Röhren
    anbelangte, so gehören die über der handschriftlichen Lexikonmatrix aufbewahrten Briefe organisch dazu wie auch das Telefon. Über beide stand er mit der literarischen Welt in täglichem Austausch. Wer etwas über seine Arbeits- und Denkweise lesen möchte, dem sei der Aufsatz »Literastelli« empfohlen, der im Band »Brückengang« (Ammann Verlag, 2009) zu finden ist. Neben diesem handschriftlichen Lexikon gehörte zu seinen Arbeitsmitteln der 38-bändige »Kosch«, zuzüglich des noch nicht abgeschlossenen korrespondierenden »Kosch – Das 20. Jahrhundert« sowie der »Kürschner«, die mein Vater jeweils kostenlos bezog, weil er sich als äußerst hilfreicher Mitarbeiter für schwierigste, sprich schier unlösbare Fälle, erwiesen hatte.

    Ein Schlüssel zum Verständnis von Wulf Kirstens Lyrikverständnis ist die von ihm herausgegebene Anthologie »Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher
    Sprache von Nietzsche bis Celan« (Ammann Verlag, 2010). Ihre Anfänge reichen zurück bis in die 1960er Jahre, in die erwähnten Koffer und Kartons. 1989 sollte sie im Programm des Aufbau-Verlages erscheinen. Sie lag als Manuskript vor und der Zürcher Ammann Verlag wollte sie als Lizenz in der Schweiz, sprich im Westen, bringen. Die DDR ging unter. Die Anthologie blieb – in zwei großen Kartons – im Durchschlag erhalten. Ab den 90er Jahren erschien Wulf Kirstens Werk im Ammann Verlag. Jedes Mal, wenn mein Vater Egon Amman auf die Anthologie ansprach, antwortete er: »Wulf, wir bringen erst einmal deinen neuen Gedichtband, die Anthologie machen wir später.« Das ging über gut 17 Jahre so. Dann, als Egon Ammann schon schwer krank und das Ende des Verlages unausweichlich war, kam er nach Weimar und wir besprachen das Werden der Anthologie. Ich sollte die Scans von den holzhaltigen Durchschlägen kollationieren, also Zeile für Zeile mit den Originalen abgleichen, was ich dann gemeinsam mit meiner Mutter erledigte. Mein Vater schrieb das Nachwort, in dem er über seine Arbeitsweise Auskunft gibt, und tippte auf der Schreibmaschine das 43-seitige Inhaltsverzeichnis. Gut 80 Prozent der benötigten Titel konnten wir bei meinem Vater einfach aus dem Regal ziehen und nach getaner Arbeit wieder dort einstellen. Nur wenige Fernleihen waren zu bestellen, die meisten übrigen Titel hatte die Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

    Weder mein Vater noch ich haben die Lyrikbände gezählt. Eine lückenhafte Nummerierung in den Bänden ergibt sich aus einer über die Jahre durch Reduktion der Bibliothek unscharf gewordenen Nummerierung, die wohl alle Titel, Lyrik, Prosa, Sekundärliteratur, einschloss. In summa beläuft sich die Lyriksammlung einschließlich zahlreicher Anthologien auf geschätzt 65 laufende Meter, wobei quer liegende Titel die Ungenauigkeit verstärken. Hinzu kommen einige Meter mit den erwähnten gesondert gestellten Reihen. Als Wulf Kirsten vor etlichen Jahren mit der Herzogin Anna Amalia Bibliothek den Ankauf der Lyriksammlung verabredete, fragte er den damaligen Bibliotheksdirektor Michael Knoche, ob die Sammlung in der Bibliothek in sich geschlossen gestellt würde. Er verneinte das, weil natürlich in keiner Bibliothek jede Sammlung gesondert aufgestellt werden kann.

    Dass es nun die Entscheidung gibt, der Lyriksammlung Wulf Kirstens im Erdgeschoss des Studienzentrums neben dem Bücherkubus einen besonderen Stellplatz einzurichten und die Sammlung als geschlossenen Bestand zu präsentieren, das hätte Wulf Kirsten sehr gefreut. So bleibt Hugo Ball in der Nähe von Johannes R. Becher und Wolfgang Borchert, Daniela Danz nicht fern von Annette von Droste-Hülshoff, Sarah Kirsch nahe bei Reiner Kunze, B. K. Tragelehn in der Gesellschaft von Georg Trakl und Franz Werfel unweit von Paul Zech. Zu hoffen bleibt, dass die Bücher hin und wieder in die Hände von Nutzern gelangen und gelesen werden. Entdeckungen lassen sich allenthalben machen.

    Jens Kirsten