Teil der Globensammlung der »Herzogin Anna-Amalia Bibliothek«

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  • 08. August, 2022 — Eine Bibliothek für Frauen in Weimar. Natalie von Mildes Kampf für Bildungsgerechtigkeit und geistige Freiheit

    Emily Stopp (Jahrgang 2002) hat sich zum Abschluss ihres Freiwilligen Sozialen Jahres 2021/22 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek mit Natalie von Milde und deren Einsatz für die Frauenbewegung um 1900 beschäftigt. Im Rahmen des Projekts gestaltete sie eine Vitrinenpräsentation, die vom 10. August bis 12. September 2022 im Bücherkubus gezeigt wird. Zu sehen ist Natalie von Mildes Publikation »Ist die Frauenbewegung natürlich?«

    Außerdem entstand der folgende Blogbeitrag.

    Weimar an der Wende zum 20. Jahrhundert: Die Geschlechterrollen von Mann und Frau sind klar definiert. Während Männer ihre von der patriarchalen Gesellschaft begünstigte Freiheit in vollen Zügen ausleben, bleibt Frauen ein selbstbestimmtes Leben weitgehend vorenthalten und ihre Rolle auf Haushaltsführung und Kindererziehung beschränkt. Für die Frauenrechtlerinnen der Zeit war klar: Es muss sich etwas ändern. Natalie von Milde nahm sich dieser Herausforderung an, indem sie eigene Texte veröffentlichte und eine Bibliothek für Frauen gründete. Mit ihren Schriften und Werken schaffte sie es als erste Vorsitzende der 1900 in Weimar gegründeten Ortsgruppe des Vereins »Frauenbildung-Frauenstudium«, die Frauenbewegung erheblich zu beeinflussen. Sie setzte sich für eine Frauenförderung ein, die Frauen denselben Anspruch auf Bildung und Recht ermöglichen sollte wie Männern. Mithilfe des von ihr und ihren Mitstreiterinnen 1902 eingerichteten Lesezimmers für Frauen schuf sie einen sicheren Rückzugs- und Sammelort für Frauen und all diejenigen, die sich mit feministischer, politischer und sozialer Literatur auseinandersetzen wollten.

    Die Entwicklung eines freien Geistes

    Natalie von Milde, geboren am 31. März 1850, war die Adoptivtochter des Sänger-Ehepaars von Milde und wuchs in einer offenen und intellektuell geprägten Gesellschaft auf. Entgegen ihrem Wunsch, eine Schauspielausbildung und ein wissenschaftliches Studium zu absolvieren, drängten ihre Eltern sie zu einer musikalischen Laufbahn. Sie machte daraufhin eine Grundausbildung in Gesang und arbeitete lange Zeit als Gesangslehrerin. Durch ihren Beruf erhielt sie Einblicke in die Entwicklung von Kindern und wurde in diesem Zusammenhang auf die Benachteiligung der Mädchen auf Bildungs- und Gesellschaftsebene aufmerksam. Beeinflusst von ihrer eigenen Erziehung, entwickelte sie ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein. Das ermöglichte ihr eine kritische Sicht auf das damalige Frauenbild.

    Sie fing an, ihre Gedanken zur politischen und sozialen Stellung der Frau niederzuschreiben und veröffentlichte zwischen 1888 und 1904 insgesamt neun Schriften unter ihrem eigenen Namen im Selbstverlag. Dank ihres Engagements wurde sie zur ersten Vorsitzenden der von ihr gegründeten Abteilung Weimar des Vereins »Frauenbildung-Frauenstudium« gewählt. Den Vorsitz behielt sie bis zu ihrem Tod 1906 inne.

    »Frauenfrage ist das Verlangen nach Gewährung aller geistigen Mittel, die zu ihrer Entwicklung nötig sind« – Natalie von Milde

    Über den Verein

    Der Verein Frauenbildung-Frauenstudium, gegründet 1895 in Berlin, ging aus der ersten bürgerlichen Frauenorganisation Deutscher Frauenverein – Reform hervor, den Hedwig Kettler 1888 in Weimar gründete und leitete. Seine Ideale wurden als »radikal« feministisch angesehen. Den Organisationsmitgliedern ging es um gleichwertige Bildung zur politischen und sozialen Förderung der Frau mit dem Ziel des Wahlrechts.

    Natalie von Milde gründete 1900 in Weimar eine Ortsgruppe des Berliner Vereins »Frauenbildung-Frauenstudium«. Die Ortsgruppe zählte rund 370 Mitglieder. Sie veranstaltete geschlossene Teeabende mit Lesungen und politischen, sozialen und historischen Vorträgen.

    Das Lesezimmer für Frauen

    Mithilfe von Spenden war es Natalie von Milde schließlich möglich, 1902 das »Lesezimmer für Frauen« einzurichten, das innerhalb von fünf Jahren bereits über 3.000 Besucher:innen fand: hauptsächlich Frauen aller Altersgruppen und sozialer Schichten, aber auch Männer. Die Buchbestände des Lesezimmers setzten sich zu einem großen Teil aus Natalie von Mildes Privatbibliothek zusammen. Darunter befanden sich Werke von Stimmrechts- und Frauenaktivistinnen, Frauenzeitschriften, historische und wissenschaftliche Schriften, Werbebroschüren und politische Flugblätter sowie Werke über die Zulassung der Frauen an Hochschulen und ihre Rechtsstellung im Staat.

    Da sich das Lesezimmer inmitten der sogenannten Froriepschen Häuser befand, zwischen dem alten Bertuchhaus und dem heutigen Weimarer Stadtmuseum, wurde es für den Bau der neuen Kongresshalle 1931 abgerissen. Das bedeutete das Ende des Lesezimmers. Nach Natalie von Mildes Tod hatte Selma von Lengefeld den Posten der Vorsitzenden übernommen. Sie organisierte die Schenkung der Lesezimmer-Bibliothek mit insgesamt 1.211 Titeln an die Thüringische Landesbibliothek, eine Vorgängerinstitution der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

    »Sie war für unsere konservative Stadt Weimar die denkbar geeignetste Persönlichkeit, die Sache der Frauen anzubahnen und zu führen« – Hildegard Obrist-Jenicke

    Noch immer aktuelle Fragen

    In Natalie von Mildes Vortrag »Ist die Frauenfrage natürlich?« und in ihrem Werk »Frauenfrage & Männerbedenken« erläutert sie Schritt für Schritt und anhand verschiedener Bereiche die Bedeutung der Frauenbewegung und wie man sie fördern kann und sollte.

    Für Natalie von Milde war die Frauenfrage eine allgemeine Menschheitsfrage und vertritt die Interessen eines jeden Mitglieds der Gesellschaft. Wer für die Frauenfrage eintritt, kämpft für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in einem patriarchalen System, welches Männer ebenso beeinflusst und einschränkt. Das Ziel der Frauenbewegung ist daher, die Entfernung und Entfremdung zwischen den Geschlechtern und Schichten zu beseitigen. Ansichten und Ideale, die in der Gesellschaft noch heute verhandelt werden.

    Mit ihrem Vermächtnis schaffte es Natalie von Milde, die Frauenbewegung in Weimar bis weit nach ihrem Tod zu beeinflussen. Der Bücherbestand des von ihr gegründeten Lesezimmers, in den auch ihre eigene Bibliothek einging, wird noch heute in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek bewahrt und interessierten Nutzer:innen zur Verfügung gestellt. Er ist als »Sammlung Bibliothek des Vereins Frauenbildung – Frauenstudium, Abteilung Weimar« im Online-Katalog der Herzogin Anna Amalia Bibliothek nachgewiesen. Über die Funktion »verwandte Publikationen« kann die Sammlung abgerufen und eingesehen werden.

    Zum Weiterlesen:

    Jens Riederer: Das Lesezimmer des »Vereins Frauenbildung-Frauenstudium« (SupraLibros 2019).
    Jonah Martensen: Natalie von Milde – Weimars vergessene Feministin

    Emily Stopp - Absolventin eines Freiwilligen Sozialen Jahres in der Kultur in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek